Lastenradfahrer sind vor mir nicht sicher, denn ich verwickle sie gern in Gespräche. Wofür nutzt du es? Bist du zufrieden? Was würdest du ändern wollen? Warum ausgerechnet dieses Modell? Etwas neidisch rolle ich am Ende des Gesprächs weiter – theoretisch schlauer – praktisch leider nicht.
Familien in und um Esslingen besitzen oft zwei Autos, dass bedeutet, man braucht zwei Stellplätze, zwei Sätze Winter- und Sommerreifen, zwei Termine bei der HU, zwei Gebührenbescheide für Steuern und Versicherung, zwei Sätze Kindersitze, zwei … ich kürze hier mal ab. Als Argument für die Anschaffung eines weiteren Autos wird oft die in Esslingen schwierige Topografie und die Vielseitigkeit eines Autos durch Sitzplätze und Stauraum für Einkäufe genannt – sicher ist da auch ein Batzen Bequemlichkeit dabei, keine Frage! Doch es gibt auch die Wechselwilligen, die einen Beitrag zur Verkehrsentlastung leisten wollen, die ihren Kindern ein Vorbild sein wollen, die ein “weiter so” nicht hinnehmen. Für diese Zielgruppe hat das Amt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz der Stadt Esslingen Mitte 2020 ein tolles Projekt auf die Beine gestellt.
Da hat sich die Stadt Esslingen nicht lumpen lassen und im Abverkauf ein klasse ausgestattetes LongJohn von Riese&Müller mit einer tollen Ausstattung erworben. Mit an Bord sind eine NuVinci bzw. Enviolo Nabe samt Riemen, ein Bosch System der zweiten Generation mit CX-Motor, Purion und einem Henkelakku sowie zahlreichen kleinen und großen Features, wie Transportbox samt Regenverdeck und Getränkehalter.
Die Bewohner der Stadt haben nun die Möglichkeit, dieses Lastenrad für 3 Wochen zu testen … was aufgrund der enormen Nachfrage auf eine Woche verkürzt wird, … und am Ende sind es aufgrund der nötigen Wartung nach jedem Nutzer nur noch 5 oder gar 4 Tage.
Ich habe eine Termin ergattern können. Meine Familie testet das Riese&Müller Packster 60 auf den kurzen Wegen der Stadt Esslingen.
An einem Freitag Ende September ist der Tag endlich da, an dem wir dieses großartige Gefährt abholen dürfen. Nach einer kurzen Einweisung und einer kleinen Probefahrt schiebe ich das kleine Kind durch die seitliche Öffnung des Regenverdecks in die Box samt Sicherheitsgurt und wir stürzen uns in den Esslinger Stadtverkehr.
Auf Baden-Württembergs längster Fahrradstraße habe ich die Möglichkeit, mich mit den neuen Abmaßen und Gewichten vertraut zu machen – Unterstützungsstufen, Lenkverhalten, Bremsverhalten – man fällt damit auf und es macht riesig Spaß. Nachdem nun der zweite Platz in der Box von einem enormen Kaffeevorrat belegt ist, geht es vom Marktplatz aus in Richtung Burg über die Obere Beutau. Die Rampe vom kleinen Marktplatz hoch zur Straße wird spielend genommen, die scharfe U-Turn-Kurve am Ende schafft das Packster 60 nicht in einem Zug, hier ist ein Pedelec mit Anhänger im Vorteil. Den Unterschied zu günstigeren Lastenrädern merkt man dann auf dem Kopfsteinpflaster. Die Federgabel vorn schluckt harte Stöße und der große, dicke Schwalbe Big Ben am Hinterrad dämpft jegliche Unebenheiten. Für den Fahrer gibt es einen sehr komfortablem Sattel mit einer Sattelstützenfederung – schlechte Straßen kann man also sehen, aber man fühlt sie nicht.
Nach ein paar Metern bergauf wird die Straße besser aber dafür auch steiler. Die Nabenschaltung fährt ab hier mit der größtmöglichen Übersetzung, der Bosch CX erreicht sein Leistungspeak – doch trotzdem wird dem Fahrer einiges abverlangt, insbesondere bei voller Beladung. Erreichen kann man 11-15km/h, je nach Motivation und Fitnesslevel. Am kleinen Stichweg zum Burgparkplatz wird es noch zäher. Die 20% Steigung bremsen das Lastenrad auf 7-8km/h – und die Oberschenkel fangen langsam an zu brennen. Wer die Möglichkeit hat, sollte bei vollbesetztem Packster die ganz krassen Steigungen meiden.
Zu Hause angekommen versuche ich das Riese&Müller per Mittelständer auf unserer schiefen bergigen Garageneinfahrt abzustellen. Das gelingt überraschenderweise sehr gut. Das Packster steht darauf wirklich extrem stabil, selbst große Kinder können sich seitlich durch das Regenverdeck in die Box quetschen, ohne dass das Lastenrad wackelt oder gar kippt.
Es wird langsam dunkel und inzwischen dämmert es mir, dass solch ein großes praktisches Lastenrad nachts einen sicheren Abstellplatz braucht. Wer viele Kinder hat, weiß wie knapp Fahrradstellfläche in Garagen und Kellern ist. Nach etwas Rücken, Schieben und Stauchen ist es geschafft, das dicke Packster ist drin und nimmt ein sechstel unserer Garage ein. In einen gewöhnlichen Fahrradkeller mit Treppenabgang bekommt man das LongJohn selten rein, dort müsste es stets draußen angeschlossen werden. Hier empfielt sich ein vom Vermieter oder Eigentümer gestellter überdachter Abstellplatz mit einbetonierten Pfosten oder aber ein großer Dachvorsprung an der Hauswand.
Wochentag, Kindergarten, Schule, Einkauf – im September 2020 alles noch möglich. Die beiden kleinsten klettern in die hölzerne Wanne unterm Regenverdeck. Das Anschnallen durch die Seitenfenster ist etwas knifflig. Auf den Schoß kommt noch der Kindergartenrucksack. Dann geht es auf dem kürzesten Weg die 4km und 200Hm hoch zum Waldkindergarten. Aufgrund der Erfahrung der ersten Steigungen entscheide ich mich für eine weniger steile Zick-Zack-Strecke durch die Obstwiesen. Der Motor surrt, die NuVinci ist auf maximaler Übersetzung – trotzdem geht das ganz schön in die Beine. Nach 5km und einer maximalen Steigung von ca. 12% komme ich zwar angestrengt aber nicht fix und fertig an. Kind raus, Küsschen, Winken und schnell auf kürzestem Weg in die Esslinger Innenstadt. Auf den Gefällstrecken ist es holprig, das kleinste Kind wuppt etwas hoch und runter – die Stimmung ist gut – doch im Tal angekommen stinken die Bremsen gewaltig. Die Bremsscheiben sind so heiß geworden, dass sie nicht mehr silbrig sondern eher regenbogenfarbig sind – nach einer Bremspause geht es weiter.
In der Stadt ist zu dem Einkauf des Nötigsten doch einiges dazu gekommen. Die Palette Milch, die Müsli-Packungen, die Joghurt-Eimer nehmen im Vergleich zu Obst, Käse, Gemüse Unmengen an Platz weg. Der Einkauf passt rein, das Kind nicht, die Regenhülle schränkt das Packvolumen im vorderen Bereich stark ein. Die Rettung ist der integrierte Spanngurt auf dem Gepäckträger. Die Milchpalette wird damit fixiert, die Cornflakes bleiben beim Fahren unterm Arm, das Kind passt rein – zum Glück. Es geht beladen und langsam wieder die 2km und 150Hm nach Hause. Packtaschen wären hier eine äußerst sinnvolle Sonderausstattung.

Etwas später kommen die größeren von der Schule und wollen gleich eine Proberunde im Lastenrad drehen. Schnell wird klar, dass die beiden zusammen nicht unter das Regenverdeck passen. Schade! Die Demontage ist mir zu aufwändig, zumal es morgen regnen soll. So wird jeder einzeln 2km um den Block gefahren. Wer ähnliche Familien-Konstellationen hat, sollte auf das Verdeck verzichten und sich noch Gedanken über den Transport der zwei Schulranzen machen. Der Gepäckträger ist dafür in der Serienausstattung trotz verstellbarem Spanngurt zu klein.
Wie die Zeit vergeht, es ist schon 13Uhr. Kind 3 muss wieder ganz oben vom Dulkhäusle abgeholt werden. Die Akkuanzeige suggeriert mir sichere 2 Balken, trotzdem nehme ich den Akku aus meinem eigenen Bike vorsichtshalber mit. Ich entscheide mich für den kürzeren Weg mit den knackigeren Steigungen – und scheitere. Die Kraft vom Motor wird durch den Gates-Riemen abgeschwächt und die NuVinci reicht für die Steigungen nicht – das Gewicht des Packsters spielt sicher auch eine Rolle. Ich bewältige einzelne Abschnitte gehend per Schiebehilfe. Auf den letzten Metern vor dem Kindergarten ist jegliche Leistung weg – Akku leer. Nach ca. 25km und knappen 700Hm ist Schluss. Wer den ganzen Tag bergig unterwegs ist, braucht eine Station zum Nachladen oder aber einen zweiten Akku an Bord. Mit dem zweiten 500Wh Power Pack meistere ich den Rest des Tages mit Getränkekäufen und ein paar Fahrten im Viertel mit Teilen der Familie.
Am Nachmittag habe ich noch die Gelegenheit, einzelne Straßen samt Steigungen auszuprobieren:
- Beutauklinge, Stadtmitte: Ohne Beladung machbar, mit 30kg Ladung bedarf es großer Anstrengung
- Obere Beutau, Stadtmitte: Mit 60kg Ladung brennt es in den Beinen
- Bantlesweg, Hegensberg: Mit 40kg Ladung nicht machbar, Absteigen und Schiebehilfe verwenden
- Untere und Obere Strümpfelbacher Steige, Wiflingshausen: Ohne Ladung nicht machbar, Absteigen und Schiebehilfe verwenden
- Obere Landenbergstrasse, Stadtmitte: Mit 40kg Ladung bedarf es großer Anstrengung
Obere Beutau Strümpfelbacher Steige
Mein Fazit: Für die wirklich kurzen Wege in Esslingen fernab vom Straßenverkehr ist das Packster 60 zu schwer und zusammen mit der NuVinci nicht geeignet. Der große Wendekreis ist an einigen wenigen Stellen ungünstig. Das Riese&Müller fühlt sich aber auf ausgebauten Radwegen und Nebenstraßen sehr wohl, dabei kann der Straßenbelag auch schlecht sein, der Fahrer bekommt aufgrund der guten Ausstattung davon wenig mit, in der Kiste vorn rumpelt es aber etwas. Bestehen die Wege aus Fahrten mit keiner oder nur geringer Steigung ist die NuVinci samt Riemen aufgrund der Zuverlässigkeit und dem geringen Pflegeaufwand womöglich die beste Wahl. Wer trotz starker Anstiege nicht auf den Riemen verzichten will, kann noch mit der Größe des Riemenrades die Übersetzung verbessern, doch diese Umrüstung ist sehr teuer. Das Regenverdeck mag bei Kälte und Niederschlag praktisch sein, man verliert aber jegliche Flexibilität dadurch – gerne hätte ich auch mal alle Kinder für ein paar Meter in den Obstwiesen in der Kiste mitgenommen. Wer so viel Geld ausgibt, sollte eine eben zugängliche Garage mit viel Platz darin besitzen. Es lohnt sich außerdem, noch etwas Geld für einen zusätzlichen Stauraum am Gepäckträger zu investieren.
Der wirklich gravierendste Nachteil ist aber, dass ich kein weiteres Kind auf seinem eigenem Fahrrad bergauf schieben kann, denn die Kiste vorn ist einfach zu breit. Die Kleinsten sind vorn zwar gut untergebracht, alle anderen haben aber das Nachsehen. Einzig ein TowWhee (Abschleppseil) könnte am Gepäckträger befestigt werden, um noch jemanden zu ziehen. Dafür ist aber in Esslingen wieder eine andere Schaltung nötig.

Das Sicherheitsgefühl auf solch einem LongJohn ist großartig, man ist damit kaum zu übersehen. Trotz allem Spaß den das Packster 60 macht, ist es in unserer jetzigen familiären Lage einfach nicht das richtige Fahrzeug – und mir fällt dieses Eingeständnis wirklich schwer!
Danke an die Stadt Esslingen für diese tolle Möglichkeit. Trotz miesem Wetter kamen in den 5 Tagen immerhin 91km und knappe 3.000Hm zusammen.